ein Statement der Stellv. Kirchenpräsidentin der EKHN, Ulrike Scherf

Ulrike Scherf

Die Themenstellung beschreibt nicht einen Lösungsweg, sondern benennt eine Problemstellung.

Diese Problemstellung betrifft die Frage nach der Zukunft der Innenstädte, und sie erhält ihre besondere Problematik in der öffentlichen Diskussion dadurch, dass in der medialen Wahrnehmung diese Frage fast ausschließlich zugespitzt wird auf die Zulassung oder Nichtzulassung von sonntäglichen Ladenöffnungen an sogenannten verkaufsoffenen Sonntagen.

Man kann diese Zuspitzung verstehen, aber muss doch zugleich feststellen, dass sie der Weite des Problemfeldes auch nicht entfernt gerecht wird – und auch weit hinter den bereits erreichten Einsichten der professionellen Beschäftigung mit dieser Frage zurückbleibt.

Denn schaut man sich die Beschäftigung mit der Frage nach der Zukunft der Innenstädte und des Handels in den einschlägigen Fachjournalen und Verbands­organen an, so ist dort die Diskussionslage gerade auch im Handel schon seit mehreren Jahren äußerst differenziert und vor allem auch skeptisch gegenüber einfachen Lösungsansätzen.

Nur wenn die Komplexität der Herausforderung unverkürzt in Augenschein genommen wird, kann man auch beurteilen, welche Maßnahmen diesen Herausforderungen gerecht werden und welche eben auch nicht. Rechtliche Regelungen sind hier sicher nur ein einzelner Baustein – und dieser Baustein bildet ganz gewiss nicht das Fundament der Lösung.

Zunächst gilt festzuhalten: Der Handel ist seit jeher ein wesentlicher Bestandteil des innerstädtischen Lebens. In fast jeder Stadt ist der Marktplatz der zentrale Ort des gemeinsamen Lebens – und fast immer findet sich dort auch die größte Kirche der Stadt. Damit ist zugleich aber auch schon zum Ausdruck gebracht, dass der Handel zwar ein wesentlicher Teil des gemeinsamen Lebens ist, aber eben nicht das Ganze des Zusammenlebens ausmacht. In der Innenstadt wurde ursprünglich nicht nur gehandelt, sondern auch gewohnt. Es wurde Handwerk betrieben und im Gasthaus eingekehrt oder in der Kneipe miteinander gefeiert. Es gab Theater und Kleinkunst – und es gab freie Plätze zum zweckfreien Verweilen und Spielen.

Diese Vielfalt ist heute oft einer Monokultur gewichen – nicht zuletzt genau in den Städten, die von den Zerstörungen des zweiten Weltkrieges am meisten betroffen waren. Städte, die weniger von diesen Zerstörungen betroffen waren, haben heute oft einen deutlich besseren Stand in der Bewältigung der Krise der Innenstädte.

Warum ist das so? Eindeutig deshalb, weil die Attraktivität einer Stadt nicht nur abhängig ist von einem möglichst umfangreichen und preislich attraktiven Warenangebot, das rund um die Uhr verfügbar ist, sondern von dem Erlebniswert, den sie insgesamt bietet.

Es ist nämlich genau dieser umfassende Erlebniswert einer Stadt, der ihr Alleinstellungsmerkmal ausmacht gegenüber dem Onlinehandel. Zu diesem Erlebniswert einer Stadt gehört unter anderem auch, dass es in ihr Zeiten gibt, die nicht von werktäglicher Geschäftigkeit bestimmt werden.

Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, wenn eine Stadt und der Handel in ihr den Versuch unternehmen, den Onlinehandel auf seinem eigenen Feld zu besiegen. Dieser Versuch muss scheitern. Er muss scheitern, weil die logistischen Möglichkeiten und der Kostenvorteil der riesigen Versandlager des Onlinehandels niemals inner­städtisch eingeholt werden können. Und auch die Ausweitung der Laden­öffnungs­zeiten wird die Nachteile des innerstädtischen Handels gegenüber dem Onlinehandel auf diesem Feld niemals ausgleichen können.

„Die Zukunft der Stadt und des innerstädtischen Handels ist analog“ (Wolfgang Christ) – und wenn wir uns auf die „analogen“ Qualitäten der Stadt einlassen, dann können wir sogar von der immer weiter zunehmenden Digitalisierung profitieren.

Wenn der Onlinehandel tatsächlich unausweichlich das Ende des Einzelhandels bedeuten würde, dann dürfte es heute keinen Tourismus mehr geben. Es gibt fast keinen Ort der Erde, der nicht im Internet – und zuvor schon seit langem in Reiseführern und Filmdokumentationen – zu besichtigen wäre. Und dennoch boomt der Tourismus – zumindest vor Corona – unaufhörlich. Es ist eben nicht dasselbe, einen Ort digital wahrzunehmen oder ihn selbst zu erleben. Und genauso ist es nicht dasselbe, eine Ware im Internet zu bestellen oder in einer Stadt mit Erlebniswert einzukaufen, sich beraten zu lassen, nebenan mit Freunden etwas zu trinken oder zu essen, und das Flair der Stadt zu genießen.

Es kommt also darauf an, die digitalen Möglichkeiten zu nutzen, um auf das einzigartige „Analoge“ hinzuweisen, das eine Stadt bieten kann. Dann entwickelt sie eine Zugkraft, die der Onlinehandel nie so haben kann.

Die Schwierigkeit, vor der wir heute stehen, ist allerdings, dass der „Flair“ einer Stadt, ihr „Charme“, das, was nur analog erlebt werden kann, nicht etwas ist, das man am Schreibtisch oder am Reißbrett entwerfen kann. Dieser Versuch wurde nach dem zweiten Weltkrieg mit mehr als geringem Erfolg bei zahlreichen zerbombten Städten unternommen – und wir leiden bis heute unter den Ergebnissen.

Und es braucht dafür Zeit und einen langen Atem. Vor allem auch deshalb, weil noch gar nicht wirklich klar ist, wie man die ganz unterschiedlichen Akteure, die eine Stadt mit Leben erfüllen, miteinander ins Gespräch bringen und vernetzen soll. Wie man das Mit- und Nebeneinander von Stadt und regionalem Umfeld gestalten soll, so dass ein lebendiges Ganze in all seiner Sperrigkeit und Unberechenbarkeit wachsen kann.

Hier sind zunächst nicht Entscheidungsprozesse an runden Tischen zu organisieren, sondern vor allem anderen sind runde Tische für vorgeschaltete Klärungsprozesse vonnöten, die eine Bestandsaufnahme der Vielfalt der städtischen Kultur und Subkultur, der städtischen Lebenswelt, vornehmen, um die Komplexität der städtischen Lebenswirklichkeit nicht zu verkürzen und unangemessen zu vereinfachen.

Sollte all dies auch nur annäherungsweise gelingen, dann warten allerdings bereits die nächsten Probleme. Um nur einige dieser Probleme zu benennen: Wie kann sichergestellt werden, dass die Attraktivität und der Erlebniswert einer Stadt nicht dazu führen, dass sich nur noch diejenigen mit einem hohen Einkommen das Leben in ihr leisten können? Und wie kann es gelingen, dass die städtischen Plätze und Parks nicht zu allabendlichen Partymeilen werden, deren Anwohner keinen Schlaf mehr finden?

Die evangelischen Kirchen in Rheinland-Pfalz sind bei all diesen Fragen nicht nur Beobachter. Wir befinden uns selbst mitten in Klärungsprozessen, um unsere eigene Rolle in den sich verändernden Lebensumständen der Menschen angemessen zu verstehen – in den Städten, aber auch in den ländlichen Regionen.

Wir bringen gerne unsere Expertise in die Bearbeitung der Frage nach der Zukunft der Innenstädte ein – aber wir sind ebenso sehr darauf angewiesen, in solchen Gesprächen selber zu lernen, wie die Zukunft der Kirchen in Stadt und Land aussehen könnte und wie das Zusammenleben der Menschen zum Wohle aller gestalten werden kann.